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Das Märchen von der Robbenfrau

Das Märchen Seehundfell, Seelenhaut im Buch "Die Wolfsfrau, die Kraft der weiblichen Urinstinkte", von Clarissa Pinkola Estés





Die Robbenfrau


Die Verbindung von Mann und Frau bedeutet fast immer einen Verlust für beide Seiten: Die Aufgabe des Ur-Weiblichen auf der einen, das Versäumen des Reif-Männlichen auf der anderen. In einer modernen Interpretation des Märchens von der Robbenfrau wird dieses Drama ebenso wie seine Erlösung deutlich.

Von Cordula Mears-Frei


In der Psyche der Frau und des Mannes leben archaische Kräfte, an die wir durch Märchen und Mythen anknüpfen können. So lassen sich mithilfe lebendiger Seelenbilder alte Initiationskräfte auch in der heutigen Zeit neu integrieren. Das Märchen von der Robbenfrau, das uns hier dienen soll, ist bei keltischen Volksstämmen, bei den Eskimos und in Nordsibirien verbreitet. Aber auch Laurens van der Post hat in seiner Geschichte Der Sternenkorb ein ähnliches Motiv der Buschmänner in Afrika aufgegriffen. Die Geschichtenerzählerin Clarissa Pinkola Estes führt uns eindrücklich in diese Welt:

…zu einer Zeit, die einst war, nun für immer vorbei ist und bald schon wiederkehrt, gibt es Tag für Tag einen blendend weißen Himmel in dem sich die Lebewesen wie winzige, flirrende Pünktchen ausnehmen und bald verlieren – Menschen, Hunde und Bären.


Damals, vor langer Zeit, lebte hier ein Mann, der sehr einsam war. Das Gesicht des Mannes war von tiefen Furchen durchzogen, die seine Tränen im Lauf der Jahre in seine Haut gegraben hatten, denn er fühlte sich verlassen und weinte viel. Tag für Tag ging er auf die Robbenjagd, legte seine Fallen aus und schlief nachts gut und tief, aber er sehnte sich fortwährend nach einem Menschen, mit dem er sein Leben teilen konnte. Manchmal, wenn ein Seehund sich seinem Kajak näherte und zwischen Eisschollen hervorlugte, dachte der Mann an die alten Geschichten, in denen es heißt, dass Seehunde vor langer Zeit einmal Menschen waren, was man heute noch an ihren Augen erkennt, an dem weisen und liebevollen Blick und ihren glänzenden Augen. Wenn der Mann solche Augen auf sich gerichtet sah, weinte er, und die Furchen in seinem Gesicht wurden jedes Mal noch ein wenig tiefer.

Viele Mythen schildern diese Ausgangssituation des Mannes, der „zuerst“ und alleine auf der Erde war während die Frau aus der Anderswelt (Feen, Hexen, Über- und Unterwelt) seine Aufmerksamkeit zu ihr hinlenkt. Die seelische Bildsprache stellt den Mann dabei vor die Prüfung: Kann er seine abgrundtiefe Einsamkeit für sich fühlen? Lässt er diese Träne zu, die in seinem Innersten brennt, die sich nach dem weiblichen Wesen an seiner Seite verzehrt? Und: hat er eine Zeit des Alleinseins bestanden, oder hat er sich abgelenkt, um jene Sehnsucht nicht zu spüren? Die Frau hingegen kommt aus anderen Wurzeln, meist eingebettet in weiblicher Solidarität („die Sternefrauen“, die ihren Reigen tanzen in der von Laurens van der Post übermittelten Version), Unbekümmertheit, Urvertrauen und einer gewissen Naivität. Sie fühlt sich weder bedroht noch beobachtet und scheint in sich erfüllt und zufrieden, ganz in Einklang mit der Wesensheimat, von der sie abstammt. (Nur Hans Christian Andersen macht hier in seinem Märchen Die kleine Meerjungfrau eine Ausnahme, wo es die wesenhafte Frau ist, welche sich nach dem irdischen Manne sehnt.) Für die weibliche Initiantin stellt sich in der modernen Psyche die Frage: Tritt sie unbewusst, ja fast zufällig in die Anderswelt der Menschen und des Männlichen hinein (wo sie sich meist verbindet mit Heim, Alltag und Kindern), lässt sie sich dazu gar verführen durch falsche Versprechen? Oder vollzieht sie diesen Schritt bewusst, in Erkenntnis des dazugehörigen Verlustes und aller Konsequenz? Tut sie es wach, so muss die heutige Frau in ihrer Seele überprüfen, was es ist, das sie da ruft. Ist es Mitleid mit der Einsamkeit des Mannes? Ist es Wissen um ihren vorbestimmten Schicksals- und Reifeweg? Ist es eine Liebe, die ihr im luftig-wässrigen Zugehörigsein zu ihren Seelenschwestern bislang unbekannt geblieben ist?

Eines Abends war er noch nach Einbruch der Dunkelheit auf der Jagd, weil er den ganzen Tag nichts gefangen hatte. Er paddelte zwischen Eisschollen dahin, während der Mond aufging und ihm einen großen, glitzernden Felsen im Meer zeigte, auf dem sich etwas bewegte. Lautlos paddelte er näher heran und erkannte, dass ein Grüppchen splitternackter Frauen auf dem Felsen beim Mondschein tanzte. Er verhielt sich still und schaute zu, wie ihre Körper sich wiegten, wie die milchig und silbern schimmernden Gliedmaßen der Mondfrauen sich im Kreise drehten.


Stockstill und tief betroffen saß er in seinem Boot, während das Wasser ihn näher und näher zu dem Felsen trieb. Der Mann wusste nicht wie ihm geschah, aber die Bürde seiner Einsamkeit fiel von ihm ab wie eine schwere, nasse Haut, er fühlte sich emporgehoben, sprang, ohne nachzudenken, auf den Felsen und stahl eines der Seehundfelle, die dort im Mondlicht lagen. Hinter einem Vorsprung versteckte er sich und verbarg das Fell unter seinem Parka.

Diese Sequenz beschreibt in wenigen Worten eine der schönsten Begebenheiten der männlich-weiblichen Dramatik. Die noch ganz wesenhaften Frauen zeigen sich dem Mann in ihrer grundlegenden Nacktheit und Unschuld. Ein Urbild, welches in Mann und Frau gleichermaßen verschüttet und zerstört wurde und nachdem sich beide zutiefst sehnen: Die Frau, welche ihre ganze Schönheit dem Manne zeigen möchte, ohne darin sexuell bewertet zu werden, und der Mann, der sich aus tiefstem Herzen nach diesem Geschenk sehnt. Um es zu empfangen, bedarf auch er einer „Unschuld im Geiste“: „Tief betroffen saß er in seinem Boot, während das Wasser ihn näher und näher zu dem Felsen trieb.“ Etwas tief Menschliches kommt hier zum Ausdruck, fern von Geilheit? - eher Trieb? - und Gier, ganz willenlos wird sein Schicksal durch die unergründlichen Kräfte des Wassers geformt. Vielleicht weiß er auch noch gar nicht, was er von diesem weiblichen Wesen zu erwarten hat.

Es dauerte nicht lange und eine Frau nach der anderen schlüpfte in ihr Seehundfell und glitt hinab ins Meer. Sie lachten und quietschten vor Vergnügen, bis auf eine. Diese Frau suchte nach ihrem Robbenfell und konnte es nirgends finden. Da trat der Mann aus seinem Versteck hervor, und obwohl er sehr schüchtern war, sagte er mit einem Mut, der ihm selbst fremd war: „Bitte… werde meine Frau und komm mit mir… Ich bin so einsam.“


„Oh nein, das kann ich nicht“, antwortete sie. „Ich gehöre zum Anderen, zu dem dort unten“.

Nie in der Geschichte von Mann und Frau wurden diese Worte ehrlicher und authentischer formuliert als in diesen wenigen Worten. Der Mann bittet die Frau, ihn von seiner Einsamkeit zu erlösen und verspricht ihr dafür (noch) nichts; keine Sicherheiten, keine Liebe, keine Zuwendung. Nur das, was ist: Ich bin so einsam. Kann ich – ein männliches Wesen – es aushalten, diese Aussage voll und ganz in mir zu fühlen? Und die Frau antwortet ohne zu zögern, denn noch „weiß“ sie - weiß, was sie später vergisst: sie gehört zum Anderen. Ihre Quelle, ihre Herkunft ist die Sternenspeise, ist Mutter Erde, ist das tiefe Meer.

„Werde meine Frau“ drängte der Mann. „In sieben Sommern erhältst du dein Seehundfell zurück, das versprech’ ich dir. Und dann kannst du dich entscheiden, bei mir zu bleiben oder zu gehen, ganz wie dir beliebt“.


Lange forschte die junge Robbenfrau im Gesicht des Mannes nach einem Zeichen. Schließlich sagte sie zögernd: „Also gut, ich gehe mit dir. Und nach sieben Sommern wird es sich zeigen“.

Was bewegte die Robbenfrau in diesen langen Minuten, was sah sie im Gesicht des alten Fischers, das sie veranlasste, ihre geistige Heimat aufzugeben? Wir können die Antwort nur erahnen – indem wir selbst in die Tiefe unseres Unbewussten blicken und uns fragen: Was hat uns bewogen, diesen Schritt zu tun? Uns dem Männlichen hin zu nähern, dem Andersartigen – auch dort, wo uns nicht das Verliebtsein drängte?


Was wusste unsere Seele besser als wir selbst? Auf welche Reise wollte sie uns schicken?

So lebten sie miteinander, und nach einer Weile gebar die Meeresgeborene dem Mann einen Sohn, den sie Ooruk tauften.


Die Jahre vergingen und die Menschenhaut der jungen Frau wurde erst schuppig, dann spröde, bis sie schließlich in trockenen Fetzen von ihrem Körper fiel. Ihr plumpes, weißes Fleisch wurde hohl und grau, selbst die Haare auf ihrem Kopf fielen aus. Das Licht ihrer seelenvollen Augen erlosch, und bald musste sie die Hand ausstrecken, um sich ihren Weg zu ertasten, denn sie war halb blind geworden. Eines Nachts wurde Ooruk unsanft aus dem Schlaf gerissen, denn der Vater schimpfte laut und die Mutter weinte.


„Gib mir mein Fell zurück“, flehte die Mutter weinend. „Sieben lange Jahre sind vergangen und der achte Winter kommt. Du hast es mir versprochen“. „Nein“, brüllte der Mann wütend. „Wenn ich dir das Fell gebe, verlässt du mich doch!“


„Ich weiß nicht, was ich tun werde. Ich weiß nur, dass ich wiederhaben muss, was mein eigen ist.“


„Dein Kind und deinen Mann willst du im Stich lassen“, schrie der Vater, „du gewissenloses Weib!“ Damit riss der Mann die Türenklappe auf und stapfte hinaus in die Finsternis.

Wie viele Frauen finden sich nach der Zeitspanne der Ehe und Mutterschaft an dieser Stelle wieder? Was für ein Schmerz, der sich in lebensbedrohlichen Krankheiten, Müdigkeit, Depression, Alkoholismus, Aggression und Resignation äußern kann – ein Grundzustand der Frau, der überall wie ein Schatten lauert und selten erkannt wird. Denn die Frau hat längst vergessen, woher sie kam. Der Mann, der sein Versprechen nicht halten kann, der sie verurteilt und kontrolliert; was ist mit ihm geschehen? Welche Initiation hat er noch nicht vollzogen?

Das Kind liebte seine Mutter sehr und weinte sich in dieser Nacht in den Schlaf, aber schon bald wurde es zum zweiten Mal geweckt. „Ooruk, Oooooruuuk!“ rief der Wind, und der Wind schien vom Meer zu kommen, vom Ufer, wo sich ein großer alter Seehund mit langen, silbernen Schnurrhaaren hin- und herwälzte und Ooruks Namen rief.

Manchmal wacht unsere Seele auf, wenn mächtige Weckrufe dieser Art unser Leben erschüttern. Ein Traum, ein Verlust, ein Lied, das wir zufällig hören, eine Geschichte die wir lesen – etwas ruft uns beständig und gibt nicht auf. Oft erinnern wir uns nur für Minuten und kehren sogleich in unsere Vergessenheit zurück. Aber der Ruf lässt nicht locker und jede Frau weiß das tief in ihrem Innern. Das, was sie ihrem Mann einst schenken konnte, als sie frei und ungezähmt im Mondschein tanzte, ist längst in ihr verwelkt. Als Sklavin ihrer eigenen Unbewusstheit dient sie einem System, dessen Sinnhaftigkeit sie sich oft selbst rationell begründen muss.


Aber es ist ihr Sohn, der den Ruf vernimmt und der sich wagt, bei Sturm und Wind dem dunklen Unbekannten zu begegnen. Tiefenpsychologisch ist dies möglicherweise die transformierte Vaterkraft. Das Opfer, welches in seiner Einsamkeit verharrt und sich zu Beginn willenlos vom Wasser, seiner eigenen Unbewusstheit, hat führen lassen, wird nun der reifere Aspekt des Männlichen, jener, welcher durch die Vereinigung des Weiblich-Mütterlich-Archaischen mit dem Männlich-Irdischen-Väterlichen entstanden ist. Erst durch die Vermählung dieser beider Aspekte entstand das Dritte: Ooruk, welcher handlungsfähig wurde. Wir begegnen an dieser Stelle also einer neuen Kraft des Männlichen: der Fähigkeit, „zu hören“ (den Ruf der Ahnen) und zu „handeln“.

Der mächtige alte Seehund hob seine Flosse und deutete auf ein Bündel, das zusammengerollt unter einem Felsen lag. Ooruk hob das Bündel auf, und sogleich kam ihm der unverkennbare Duft seiner Mutter entgegen. Er entrollte das Seehundfell, und in dem Moment spürte Ooruk, wie sich die Seele seiner Mutter mit all ihrer endlosen Liebe über ihm entfaltete. Der alte Seehund nickte geheimnisvoll und versank langsam im Meer.


Das Fell fest an die Brust gedrücktrannte Ooruk nach Hause, direkt in die Arme seiner Mutter, die schon voller Unruhe auf ihn und das Robbenfell gewartet hatte.


Voller Dankbarkeit schlüpfte sie in den Pelz. „Oh, nein, Mama, nein“, schrie das Kind. Aber sie hob es auf und trug es dem tosenden Meer entgegen. Sie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und hauchte ihren Atem in die Lungen des Kindes, einmal, zweimal und ein drittes Mal. Dann tauchte sie mit ihrem Sohn in die Fluten unter, sank tiefer und tiefer hinab, bis zum tiefsten Meeresgrund, und beide konnten ohne Mühe unter Wasser atmen.

Auch Ooruk trägt die Angst vor Einsamkeit und Verlassenheit in sich. Anders als sein Vater ist er evolutionär einen Schritt weiter und empfängt die Einweihung, nach der sich sein Vater zeitlebens sehnte – die Verbindung zu seiner Urquelle, dem Urvater, in Gestalt des mächtigen Seehund-Ahnen. Aber nicht nur von männlicher Seite erhält er das lebensspendene Mana, sondern auch die Frau weiht ihn in ihr Geheimnis ein. Indem sie ihm ihren Atem einhaucht, verbinden sich in seiner Psyche weiblich-männlich Urkräfte. Das befähigt ihn, „unter dem Wasser“ zu atmen und sich in der Anderswelt der Mutter zurechtzufinden. Reich beschenkt muss er dennoch in seine Welt zurückkehren.

Sieben Tage und sieben Nächte vergingen, in denen der Glanz in die Augen der Mutter zurückkehrte, ihr Fleisch wieder fest, ihre Haut wieder seidig wurde und alles gesundete. Aber dann kam die Stunde des Abschieds. Gemeinsam mit dem Großvater trug sie Ooruk hinauf in die Welt der Erdbewohner und setzte ihr Kind am steinigen Ufer im Mondlicht ab.


„Ooruk“, sprach die Mutter zu guter Letzt, „ich bin immer bei dir. Du musst nur berühren, was ich berührt habe: meine Feuerhölzer, mein Messer, meine Steinmetzarbeiten, dann wirst du einen Atem spüren, der mein Atem ist. Und er wird dich singen lassen und dir Geschichten geben.“


Die Jahre vergingen und Ooruk wuchs zum Mann heran. Er wurde ein großer Sänger, Trommler und Geschichtenerzähler seines Volkes, und die Leute sagten, dass er seine Kräfte einem Wunder in seiner Kindheit zu verdanken habe, bei dem er vom Geist der Seehunde vor dem Ertrinken bewahrt wurde. Noch heute sieht man ihn im Morgennebel auf einem Felsen knien und Zwiesprache mit einer Seerobbe halten, die niemand fangen kann, so oft es auch versucht wurde, denn sie ist unantastbar und wird Tanqigcaq genannt, die Glänzende, die, mit den weisen, wilden, seelenvollen Augen. 

Ooruk vollzieht die Seeleneinweihung, indem er sich seinem Schicksal stellt und das Weibliche selbstverantwortlich in seine Psyche integriert. Er entschlüsselt seine intuitiven, kreativen und geistigen Fähigkeiten (Sänger, Trommler, Geschichtenerzähler) und bleibt in einer ewigen Verbindung mit dem Aspekt der Frau, indem er die „Zwiesprache“ mit der Seerobbe pflegt. Er spricht zu ihrem echten Seelenanteil und verübelt es ihr nicht, dass er deswegen die irdische Mutter verlieren musste. Tanqigcaq hat zu ihrer wilden, ungezähmten Seehundnatur zurückgefunden und hat eines gelernt auf ihrer Erdenreise: Ihre wahre Natur, ihre Seelenaugen und ihre Freiheit nie wieder zu opfern. Aber in dem liebevollen Kontakt zu dem männlichen Aspekt in „Ooruk“ ist sie, aus ihrer wahren Quelle heraus, alles zu geben bereit.


Der alte Fischer wird in diesem Märchen, wie auch in ähnlichen anderen Geschichten, nicht mehr erwähnt. Man darf davon ausgehen, dass in der archaischen Deutung Verwandlungsaspekte innerhalb der eigenen Psyche durch verschiedene Urbilder dargestellt werden und dass sich der alte Aspekt des Männlichen, der nicht eingeweihte Fischer, zum jugendlichen Bild des neuen Mannes im Sohn transformiert.

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